„Meiner Meinung nach sollte Mobilität auch weiterhin etwas kosten dürfen!“

Aug 26, 2021 | Innovation, Interviews, Personenverkehr

Im Zuge von Klimaschutz, Verkehrswende und der #ZukunftBahn wird auch immer wieder über „Kostenlosen ÖPNV“ gesprochen. Sowohl in den Medien als auch auf politischer Ebene wird Bus und Bahn zum Nulltarif diskutiert. Manche Städte haben den Versuch gewagt, mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Philipp Wenner, Personalentwickler bei der DB, hat erforscht, ob ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr Autofahrer zum Umstieg bewegen kann. Wir haben mit Philipp Wenner über die Ergebnisse seiner ausgezeichneten Masterarbeit gesprochen.

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Was können Ziele hinter kostenlosem ÖPNV sein, oder geht es nur darum, den Klimaschutz voranzutreiben?

Den Klimaschutz voranzutreiben ist angesichts der aktuellen Debatte rund um die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C und die Reduzierung der CO2-Emissionen sicherlich ein sehr präsentes Ziel – aber es ist nicht das einzige, das mit der Einführung von kostenlosem Nahverkehr verfolgt werden kann. Auch die Reduzierung von gesundheitsschädlichen NOx-Emissionen und die Entlastung der Innenstädte können im Fokus stehen. Durch die zunehmend schärferen Emissionsgrenzen stehen viele Städte und Ballungsräume vor der Herausforderung, wirksame Maßnahmen zur Einhaltung der Grenzwerte zu finden und werden teilweise von Umweltverbänden vor Gericht zum Handeln gezwungen. Auch wenn die Zulassungskriterien für neue Autos immer strenger werden, besteht hier durch den über die letzten Jahrzehnte gestiegenen Individualverkehr immer noch Handlungsbedarf, um die Grenzwerte einzuhalten. Die überfüllten Straßen in vielen Regionen kosten nicht nur Zeit, sondern erhöhen den Kraftstoffverbrauch und die Emissionen zusätzlich.

Ist Ihrer Meinung nach der öffentliche Verkehr zum Nulltarif ein gutes Tool, um die oben genannten Ziele zu erreichen?

Öffentlicher Nahverkehr zum Nulltarif kann sicherlich dazu beitragen, dass die Angebote stärker genutzt werden und einige Personen ihre Verkehrsmittelwahl überdenken. Allein dadurch werden die Ziele aber meiner Meinung nach nicht erreicht werden können. Der Preis allein ist nur ein Aspekt, der in die individuelle Verkehrsmittelwahl einfließt – wenn das Angebot im Nahverkehr insgesamt nicht stimmt, dann bleibe ich beim Auto.

Die Ergebnisse meiner Studie und vieler anderer Forschungsergebnisse zeigen, dass die Nachfrage nach öffentlichem Verkehr unelastisch ist: die prozentuale Steigerung der Nachfrage ist also kleiner als die prozentuale Senkung des Preises. In der Regel sind Fahrpreisreduzierungen daher ein teures Geschenk an die Verkehrsteilnehmer:innen – mit wenig Wirkung auf die Wahl des Verkehrsmittels. Damit ändert sich also der Anteil des ÖPNV am gesamten Verkehr nicht.

Sie haben gerade angesprochen, dass der Preis nur einen Teil ausmacht. Was sind entscheidende Faktoren für den Erfolg des ÖPNV?

Entscheidend für die Attraktivität und den Erfolg des ÖPNV ist das Angebot. Der Nahverkehr muss wettbewerbsfähig sein, um gegenüber dem Individualverkehr bevorzugt zu werden.

Dazu zählt insbesondere die Zeit, die im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln für die jeweilige Strecke benötigt wird. In meinen Untersuchungen hat sich dies als wichtigster Faktor bei der Entscheidung für oder gegen ein Verkehrsmittel herausgestellt. Der Preis spielte demgegenüber eine untergeordnete Rolle.

Neben Fahrzeit und Preis spielt auch die Taktung der Verbindungen eine Rolle bei der Bewertung des Angebotes. Während wir in Großstädten alle paar Minuten einen Bus oder eine Bahn nehmen können, sind die Fahrpläne auf dem Land häufig auf einige wenige Verbindungen am Tag beschränkt und am Wochenende fährt womöglich gar nichts. Die Flexibilität des Autos, mit dem ich jederzeit losfahren kann, ist dagegen natürlich weit überlegen.

Weitere Faktoren sind die Qualität und Verlässlichkeit der angebotenen Verbindungen, die Auslastung zu Hauptverkehrszeiten sowie die Komplexität des Ticketsystems.

Könnte man mit kostenlosem ÖPNV, vor allem bei einkommensschwächeren Gruppen das Mobilitätsverhalten zugunsten des öffentlichen Verkehres verändern?

In vielen Regionen gibt es bereits heute vergünstigte Tickets für einkommensschwächere Gruppen wie Empfänger:innen von Sozialhilfe oder Auszubildende. Zudem sind die Einstiegskosten für die Nutzung des öffentlichen Verkehrs deutlich geringer als beim motorisierten Individualverkehr, für den ich ein Auto benötige – ein Führerschein vorausgesetzt. In meinen Untersuchungen konnte ich jedoch keinen Zusammenhang zwischen dem Einkommen und der Verkehrsmittelwahl feststellen. Meine Daten wurden aber in Berlin erhoben, wo wir ein stark ausgebautes ÖPNV-Angebot haben – eine Übertragung auf andere Gegenden ist daher nicht unbedingt möglich.

Ich bezweifle dennoch, dass ein kostenloses Angebot für einkommensschwächere Gruppen eine große Wirkung entfalten würde, da auch für diese Zielgruppe die Verbindung und Taktung des ÖPNV konkurrenzfähig sein muss. Und ein gut ausgebautes Angebot kann dann wiederum nicht nur eine größere Wirkung über alle Einkommensgruppen hinweg entfalten, sondern beugt gleichzeitig einer Stigmatisierung von ÖPNV-Nutzenden vor.  

Was sind Nachteile oder vielleicht auch Probleme, die im Zuge von ÖPNV zum Nulltarif auftreten können?

Das offensichtlichste Problem beim Angebot von ÖPNV zum Nulltarif ist die Finanzierung. Schon heute müssen die teils klammen Kommunen große Beiträge zur Finanzierung des Nahverkehrs leisten, um Fahrpreise zu ermöglichen, die halbwegs attraktiv sind. Zum Nulltarif würde diese finanzielle Belastung für die Aufgabenträger noch weiter steigen.

Eine andere Herausforderung sind die Kapazitäten. Heute schon ist der ÖPNV zu den Hauptverkehrszeiten häufig ausgelastet oder gar überlastet. Würden sich jetzt noch mehr Menschen entscheiden, mit dem Nahverkehr zur Arbeit zu fahren, müsste das Angebot erweitert werden, um sie überhaupt transportieren zu können.

Hinzu kommt, dass die erwartbare Mehrnutzung nicht nur durch erwünschte Wechsel stattfinden würde, sondern auch Wege mit Bus und Bahn zurückgelegt werden würden, die bis dahin zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt wurden. Die Einführung von kostenlosem ÖPNV in Tallinn ist hier ein eindrückliches Beispiel: Hier wurde beobachtet, dass die Anzahl der zurückgelegten Wege zu Fuß nach Einführung des kostenlosen Nahverkehrs um 40% gesunken ist.

Was braucht es Ihrer Meinung nach, um die Bahn bzw. den öffentlichen Verkehr langfristig erfolgreich in die Zukunft zu führen, und ist die Anpassung der Preise ein Teil davon?

Aus meiner Sicht braucht es einen klaren Fokus auf ein attraktives Angebot. Der Nahverkehr muss für möglichst viele Menschen konkurrenzfähig sein hinsichtlich Reisezeit, Zuverlässigkeit und Flexibilität. Gerade im städtischen Raum müssen dabei auch ausreichend Kapazitäten geschaffen werden, um Überfüllungen zu vermeiden – gegebenenfalls muss dazu auch in den Ausbau der Infrastruktur investiert werden. In weniger dicht besiedelten ländlichen Regionen muss man hingegen auch überlegen, ob es überhaupt realistisch ist, ein konkurrenzfähiges Angebot des ÖPNV zu schaffen. Je nach Region kann es vielleicht auch nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch ökologischer sein, auf den Individualverkehr als Zubringer zu größeren Verkehrsachsen zu setzen.

Meiner Meinung nach sollte Mobilität auch weiterhin etwas kosten dürfen – allerdings müssen auch die Preise konkurrenzfähig sein und dürfen keinen Hinderungsgrund darstellen. Wenn Preis und Leistung heute nicht zusammenpassen, kann auch eine Preisanpassung gegebenenfalls notwendig sein, um das Angebot attraktiver zu machen. Eine pauschale Aussage lässt sich hierzu aber nicht treffen.

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