Die Bahnindustrie ist ein essentieller Bestandteil der Wirtschaft in Deutschland und Europa. In einem exklusiven Interview mit Sarah Stark, Geschäftsführerin des Deutschen Verbands der Bahnindustrie, tauchen wir tief in die Entwicklungen und Herausforderungen dieser wichtigen Branche ein. Erfahren Sie, wie die Bahnindustrie sich den ökologischen Herausforderungen stellt, umweltfreundliche Technologien vorantreibt und gleichzeitig die Effizienz im Schienenverkehr steigert.
Der Beitrag der Bahnindustrie zum Wirtschaftsstandort Deutschland ist erheblich. Könnten Sie Einblicke geben, wie die Branche die deutsche Wirtschaft unterstützt, sei es durch Arbeitsplätze, Exporte oder Innovationen, und welche Bedeutung sie für die Gesamtwirtschaft hat?
Die weit über 200 Unternehmen der Bahnindustrie in Deutschland entwickeln und fertigen Systeme und Komponenten für Schienenfahrzeuge und Infrastruktur mit rund 56.600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern allein in Deutschland. Dabei erwirtschaftet die Bahnindustrie durchschnittlich 14 Milliarden Euro im Jahr, 40 Prozent davon im Export. Innovative Technologien „Made in Germany“ sorgen weltweit für exzellente Bahnsysteme, klimaschonende Mobilität und digitale Innovationen.
Die Schiene ist schon heute auf direktem Weg zu null Emissionen: Zugverkehr macht weniger als ein Prozent der Treibhausgas-Emissionen im Transportsektor aus, 90 Prozent der Fahrleistung auf deutschen Netzen erfolgt elektrisch. Und wo Elektrifizierung durch Oberleitung noch aussteht oder nicht wirtschaftlich ist, können alternative Antriebskonzepte wie Wasserstoff-, Batterie- und Hybridantriebe überbrückend dekarbonisieren.
Weil der Mobilitätsbedarf perspektivisch kräftig wächst, braucht das europäische Schienennetz für den Personen- wie für den Güterverkehr mehr Kapazität und mehr Interoperabilität. Das European Train Control System (ETCS) zusammen mit automatisierten Assistenzsystemen ermöglicht bis zu 25 Prozent mehr Verkehr auf bestehenden Strecken. Die Digitalisierung macht die Schiene künftig noch pünktlicher, zuverlässiger, effizienter und komfortabler.
Wie geht die deutsche Bahnindustrie mit dem aktuellen Fachkräftemangel um und welche Maßnahmen werden ergriffen, um qualifizierte Arbeitskräfte für die Branche zu gewinnen und zu halten?
Bahnindustrie bedeutet schon lange nicht mehr Dampflokomotive. Wir können klimaneutrale Antriebe, wir können autonomes Fahren und Künstliche Intelligenz sowie schicke Designs. Digitale Schieneninnovationen schaffen völlig neue High-Tech Berufe. Auch Berufe mit hohem Identifikationspotenzial, weil die Arbeit unserer Industrie im Alltag sichtbar ist. Und das weltweit. Das müssen wir alles noch viel deutlicher kommunizieren. Berufsvorbilder müssen sichtbarer werden.
Mit unserer Social Media Kampagne „Starke Frauen, starke Bahnindustrie“ haben wir 100 Frauen, ihre Motivation, ihre Werdegänge und Jobprofile sichtbar gemacht. Sie zeigen, wie vielfältig wir sind und dass Frauen heute bereits einen Platz in unserer Industrie haben.
Daneben muss Nachwuchsförderung deutlich früher beginnen. Bereits in Schulen und auch stärker an Universitäten müssen wir die vielfältigen Möglichkeiten der Bahnindustrie aufzeigen, greifbar und erlebbar machen. Und unsere Industrie darf gern auch noch ein gutes Stück diverser werden. Es braucht neue Arbeitszeitmodelle, die Raum für Pflege und Betreuung ermöglichen. Attraktive Rahmenbedingungen und Arbeitskonditionen sowie Förderprogramme müssen junge Nachwuchskräfte, Quereinsteiger und auch gezielter Frauen bei ihrer beruflichen Verwirklichung unterstützen.
Inwiefern beeinflusst die derzeitige Inflation und die hohen Energiepreise die Investitionen und Projekte der deutschen Bahnindustrie, insbesondere auch im Hinblick auf die Entwicklung neuer Technologien und die Modernisierung der Schieneninfrastruktur?
Die Inflation und Energiepreisexplosionen stellen die Bahnindustrie, wie so viele Sektoren, weiterhin vor Herausforderungen. Und wir werden doppelt belastet, denn die Bahnindustrie arbeitet regelmäßig mit langlaufenden Liefer- und Rahmenverträgen zu festen Preisen. Es besteht somit kaum eine Möglichkeit, die massiv gestiegenen Kosten entlang der gesamten bahnindustriellen Wertschöpfungskette fair zu verteilen. Die Folgen sind unverhältnismäßige, teilweise existenzgefährdende Belastungen der Bahnindustrie trotz starker Auftragslage, da das Risiko aktueller Kostensteigerungen ohne Preisgleitklauseln in laufenden Verträgen allein bei den Auftragnehmern liegt. Gleichzeitig setzt die aktuelle Situation auch unsere Auftraggeber finanziell unter Druck.
Deshalb plädieren wir für Preisgleitklauseln in Neu- wie auch Bestandsverträgen. Um eine faire Kostenteilung zwischen Auftraggeber und Hersteller zu ermöglichen, müssen die – meist öffentlichen – Auftraggeber dann allerdings auch für die Beschaffung von Bahntechnik in die Lage versetzt werden, die Mehrkostenteilung finanziell kompensieren zu können. Dazu stehen wir mit Branche und Politik in engem, konstruktivem Austausch.
Wir haben über einige Herausforderungen gesprochen, was wäre aktuell Ihr größter Wunsch an die Bahn- und Industriepolitik in Deutschland, und Europa?
Die Bahnindustrie braucht Politik mit Weitsicht! Der deutsche Verkehrsminister Dr. Volker Wissing hat vor einigen Wochen Rekordinvestitionen in Höhe von 39 Milliarden Euro bis 2027 für die Schiene angekündigt. Das ist ein starkes Zeichen und gute Signal an unsere Industrie. Aber wir brauchen in Deutschland und Europa mehr Verbindlichkeit und vor allem längerfristig verlässliche Investitionszeiträume. Denn die Bahnindustrie braucht Sicherheit, um ihre Kapazität planen und gegebenenfalls ihre Ressourcen aufstocken zu können.
Um dann auch beste und nicht nur billigste Schienentechnologien auf das Gleis zu bekommen, wünschen wir uns abschließend noch einen Umbruch in der Vergabekultur. Im Bahnsektor werden heute immer noch 92 % der Ausschreibung ausschließlich nach billigstem Anschaffungspreis vergeben. Innovationen fallen so zunächst durch den Rost und der Wettbewerb um beste, nachhaltigste Lösung wird ausgebremst. Darüber hinaus steigert diese Beschaffungskultur das Risiko für höhere Kosten im gesamten Lebenszyklus sowie für Nachträge und Budgetüberschreitungen. Dabei ist die Lösung im bestehenden nationalen wie europäischen Vergaberecht bereits verankert. Die Bewertungsmethode des „Most Economically Adventageous Tender“, kurz MEAT, dient der Ermittlung des wirtschaftlich vorteilhaftesten Angebots, wobei der Fokus nicht auf dem Anschaffungspreis, sondern auf Kriterien wie etwa Nachhaltigkeit, Lebenszykluskosten, Design sowie Qualität bei Implementierung und Betrieb liegt. Die Hürde liegt also nicht im bestehenden Recht, sondern in der Praxis.
Die Bahnindustrie steht bereit, jetzt müssen wir alle gemeinsam die Rahmenbedingung so optimieren, dass sie der Mobilität der Zukunft gerecht werden.