Radsätze gehören zu den sicherheitskritischen Bauteilen eines Schienenfahrzeuges und sind zugleich auch die kostenintensivste Instandhaltungskomponente des Rollmaterials. Gerade deshalb muss hierauf die Industrie aber auch die Instandhaltung ein besonderes Augenmerk legen. Dr. Sven Jenne ist bei der Traditionsmanufaktur Gutehoffnungshütte Radsatz GmbH Director of Engineering & Development und ein echter Experte was Radsatz betrifft. Wir haben über zentrale Zukunftsfragen rund um das Thema Radsatzmanagement gesprochen.
Radsatzmanagement war kürzlich auch bei der „RailVoice“ Webinar-Reihe der Boom Software AG das zentrale Thema. Hier hat unter anderem auch Dr. Sven Jenne, gemeinsam mit anderen hochkarätigen internationalen SpeakerInnen, das Thema Radsatzmanagement aus verschiedenen Perspektiven näher beleuchtet. Hier gibt´s das Webinar zum Nachsehen!
Sehr geehrter Herr Dr. Jenne – nur sehr wenige Menschen haben sich mit Thema Radsatz so intensiv beschäftigt wie Sie. Welches Detail zum Thema Radsatz fasziniert Sie nach wie vor?
Eigentlich könnte man meinen, dass ein Radsatz nur aus einer Stange und zwei Scheiben besteht und daher ziemlich langweilig ist. Dies ist aber nicht so. Es gibt viele Themen, die einen jedes Mal aufs Neue herausfordern. Radsätze umfassen viele unterschiedliche Fachgebiete wie z.B. Werkstoffkunde, Festigkeit und Akustik. Weiterhin beinhalten sie hohe Anforderungen an Lebensdauer, Qualität und Fertigungsgenauigkeit. Besonders die Anwendungen im Straßenbahnbereich sind technisch sehr komplex. Beispielsweise kommen hier Losradachsen mit gummigefederten Rädern zum Einsatz, deren Konstruktion und Abstimmung sehr komplex ist und viel Know How erfordert
Thema Bedarfsplanung – Für Betreiber sind die Lebenszykluskosten eines Radsatzes ein zentrales Thema. Wo sehen Sie noch Potentiale für die kommenden Jahre? Kann es noch Verbesserungen geben?
Die Minimierung des Radverschleißes und die Reduzierung der Kosten in der Instandhaltungsind ein zentrales Anliegen von GHH-Bonatrans. Neben der optimalen Auswahl der Werkstoffe und des Radprofils ist die Analyse der Verschleißentwicklung der Vollräder bzw. der Radreifen eine wichtige Voraussetzung, um die optimale Instandhaltungsstrategie zu entwickeln. Hierbei können den Betreibern digitale Lösungen helfen, um eine gute Datenlage zu erreichen und eine entsprechende Analyse durchzuführen.
Bei der Reduzierung der Instandhaltungskosten von Radsatzwellen setzten wir auf unsere induktivgehärteten Wellen BONAXLE®. LCC Analysen zeigen deutliche Kostenvorteile, da die hohe Oberflächenhärte eine Beschädigung im Betrieb und in der Instandhaltung verhindert und die Instandhaltungsintervalle der Wellen verlängert werden können.
„Predictive maintenance ist wohl das Schlagwort der Stunde. Wie ist ihre Sicht zu dieser Entwicklung? Wird das Konzept „predictive maintenance“ richtig verstanden?
Predictive Maintenance dient dazu, Instandhaltungsintervalle einer Komponente zu verlängern, indem der Zustand einer Komponente durch Sensorik erfasst wird und man somit ohne Sicherheitsverlust näher an das tatsächliche Lebensdauerende herankommen kann, bis die Komponenten ausgetauscht werden muss. Im Gegensatz dazu steht die konventionelle Preventive Maintenance mit festen Instandhaltungsintervallen. Klassischer Anwendungsfall im Radsatzbereich für Predictive Maintenance ist die Diagnose der Radsatzlager durch Beschleunigungssensoren am Lagergehäuse. Mittels dieser Sensoren können fallweise auch Laufflächenschäden, z.B. Flachstellen, diagnostiziert werden.Für die Optimierung der Standzeit von Rädern eignet sich Predictive Maintenance nur begrenzt, da der reguläre Radverschleiß auch ohne Sensorik am Radsatz leicht gemessen werden kann und sich das Instandhaltungskonzept darauf aufbauen lässt. Zu beachten ist hierbei vielmehr die Abstimmung der verschiedenen Instandhaltungsschritte am Radsatz wie Instandhaltung an Rädern, Wellen, Lagern, Getriebe und Bremsscheiben. Daher haben Instandhaltungskonzepte am Radsatz meistens feste Intervalle (Preventive Maintenance)
Wo sehen Sie Potentiale für Betreiber bezüglich des wheelset managements – gibt es Fehler die Sie immer wieder sehen?
Durch das richtige wheelset management können die Laufleistungen der Räder deutlich gesteigert werden. Im Wesentlichen sprechen wir hierbei über die Festlegung der Reprofilierungsintervalle und der Spantiefe bei jeder Reprofilierung. Die genaue Kenntnis der Radprofilentwicklung während der Laufleistung ist eine wichtige Grundlage zur Optimierung der Reprofilierungsstrategie. Dies erfordert regelmäßiges Messen der Radprofiele. Ein häufiger Fehler, den wir bei Betreibern sehen ist, dass mit der Reprofilierung zu lange gewartet wird und dann ein sehr großer Span abgedreht werden muss, um den Sollzustand wieder herzustellen. Höhere Gesamtlaufleistungen erzieht man häufig, indem vor dem Erreichen der Instandhaltungsgrenzmaße des Radprofils eine Reprofilierung durchgeführt wird.
In den letzten Jahren sehen wir häufig die Tendenz zu Spurkranzwachstum. Hierbei verschleißt die Lauffläche stärker als die die Spurkranzflanke, was ein Anwachsen der Spurkranzdicke (Sd) zur Folge hat. Nach kurzer Laufleistung kommt es dann bereits zu einer Überschreitung des Betriebsgrenzmaßes und eine Reprofilierung ist erforderlich. Diesem Effekt kann man entgegen wirken, indem das Neuprofil eine verringerte Spurkranzdicke bekommt.
Wenn die gewünschte Laufleistung nicht erreicht wird, ist ein Wechsel der Stahlgüte der Räder möglich. Hierzu empfehlen wir in der Regel eine Betriebserprobung, da eine Vorhersage der Auswirkung der geänderten Stahlgüte auf die Laufleistung schwierig ist.
Was ist Ihre Vision im Radsatzmanagement? Was muss geändert werden, um die nächste Stufe der intelligenten Wartung des vielleicht kritischsten Teils des Rollmaterials zu erreichen?
Bei großen Betreibern im Personenverkehr sehen wir schon einen sehr professionellen Umgang im Radsatzmanagement. Hier liegen genaue Daten über die Instandhaltungsmaßnahmen und die Profilentwicklung bezogen auf jeden Radsatz vor. Mit diesen Erkenntnissen können die richtig Maßnahmen zur Optimierung der Instandhaltungsprozesse getroffen werden bei gleichzeitiger Gewährleistung eines hohen Sicherheitsniveaus. Hier gibt es noch Entwicklungspotential bei der Bedarfsplanung von Ersatzteilen und bei der elektronischen Zeugnisübermittlung. Als Radsatzlieferant sind wir in diesem Zusammenhang daran interessiert, möglichst einen gemeinsamen Standard für das Datenaustauschformat zu erreichen.
Lücken beim Radsatzmanagement bestehen im Bereich der Güterwagen. Hier ist häufig eine automatische Zuordnung der Messdaten des Radprofils zu einer Radsatznummer nicht automatisch möglich. Nur wenige Wagenhalter verwenden auslesbare Radsatzidentifikationssysteme (RFID). Dies erschwert ein effektives Radsatzmanagement. Ähnliche Lücken gibt es bei Betreibern von Straßenbahnen, obwohl hier wegen des begrenzten Streckennetzes eine Zuordnung der Radsatznummer zu den Messergebnissen einfacher ist.
Langfristig könnten wir uns vorstellen, dass der Radsatzlieferant direkt in die automatische Ersatzteilplanung der Instandhaltungssysteme eingebunden wird und so eine effektivere Materialplanung möglich wird. Oberstes Ziel ist die Vermeidung von Fahrzeugstillständen wegen fehlender Ersatzteile bei gleichzeitig minimaler Bestände beim Lieferanten und Kunden.