Doppelinterview: „Vernetzung und Kommunikation spielen in der Anwendung der ECM Verordnung eine wesentliche Rolle“

Mai 31, 2023 | Bahnindustrie, Innovation, Interviews, Personenverkehr

Am 30. Mai hat Boom Software AG zu einer weiteren Ausgabe des Rail Voice Webinar eingeladen. Diesmal stand die ECM 2019/779 Verordnung im Fokus der Diskussion. Mit hochkarätigen Gästen aus unterschiedlichen Unternehmen wurde über die Herausforderungen in der Umsetzung der Verordnung diskutiert. Mit zwei Panelteilnehmer:innen konnten wir im Nachgang nochmal zu einigen Themen nachhaken.

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Babette Müller-Reichenwallner: Was waren Für Sie die Takeaways aus dem Webinar, was sind die großen Herausforderungen hinter der ECM 779 für die Unternehmen?

Ein Jahr nach Ende der Übergangsfrist scheint mir etwas Ruhe eingetreten zu sein und die Umsetzung der Verordnung hat dann vielleicht sogar besser geklappt, als mancher es vorher gedacht hätte. Die „Pflicht“ ist weitestgehend erledigt und nun macht es Sinn, sich mit der „Kür“ zu beschäftigen: wie kann ich meine Prozesse verbessern, um sie transparenter und effizienter zu machen. An dieser Stelle ist sicher noch Luft nach oben und ich vermute, dass Themen wie Kostensteigerungen (Stichworte Energiekrise oder Inflation) und der Fachkräftemangel hier Treiber sein werden.

Helmut Hohenbichler: Welche Rolle spielen Vernetzung und Kommunikation, wenn wir über ECM diskutieren?

Die Vernetzung und Kommunikation spielen in der praktischen Anwendung der ECM Verordnung eine wesentliche Rolle. Sie bestimmen zum einen die Effizienz und Qualität des Datenaustauschs zwischen den einzelnen ECM Domänen, und zum anderen sind sie das ausschlaggebende Instrument um die umfangreichen Datenmengen aus den jeweiligen Prozessen bewältigen zu können. So ist zum Beispiel das, „am aktuellen Stand halten“, des Konfigurationsmanagements einer umfangreichen Fahrzeugflotte, mit wechselseitigen Abhängigkeiten von sicherheitskritischen Komponenten über die ECM Domänen hinweg, heutzutage fast nurmehr durch digitale Anwendungen sicherzustellen.

Umso mehr bietet hier die Digitalisierung Möglichkeiten um den Prozess beherrschbar zu halten.

Babette Müller-Reichenwallner: Sprechen wir nun im Detail über die ECM 2019/779 Verordnung: Welche Effekte ergeben sich für die Unternehmen, und ergeben sich dadurch auch Chancen?

Im ersten Schritt ist die Verordnung natürlich damit verbunden, dass die Vorgaben implementiert und Regeln befolgt werden müssen. Daher ist es durchaus nachvollziehbar, dass alle Unternehmen, die die ECM 2019/779 umsetzen, sich zunächst voll auf die damit verbundenen Pflichten konzentrieren, um die Zertifizierung sicher zu erreichen. Was dann im nächsten Schritt aber aus meiner Sicht viel zu zaghaft wahrgenommen wird, sind die Chancen die sich ergeben, wenn man sich detailliert mit den Instandhaltungsprogrammen auseinandersetzt. Hier lassen sich bei gleicher Sicherheit relativ einfach Kosten reduzieren. Ein prägnantes Beispiel ist hier der Motor einer Diesellok: eine nicht sicherheitsrelevante aber kostenintensive Komponente für die Instandhaltung: diese nur noch nach Motor- und nicht nach Lokbetriebsstunden instand zu halten, kann sich schnell auszahlen.

Babette Müller-Reichenwallner: Instandhaltung ist und bleibt ein Handwerk, warum sollte man trotzdem über Digitalisierung nachdenken und welche Rolle nehmen digitale Lösungen in der Instandhaltungsentwicklung ein?

Auf der Hand liegt für mich die Prozesssicherheit. Gerade in einem Umfeld, wo viele verschiedene Unternehmen zusammenarbeiten (Betreiber/EVU, Werkstatt/ECM4, Instandhaltungsplanung/ECM3) müssen transparente Lösungen her. Da können digitale Lösungen schnell und komfortabel helfen.

Aber auch für die Instandhaltung selbst. Ich hatte das Beispiel des Motors genannt, bei sich Kosteneinsparungen ergeben können, wenn dieser unabhängig von der Lok gefristet wird. Wie wäre es, wenn wir die Wartung des Kompressors auf Kompressor-Stunden oder die Wartung der Pantographen auf die tatsächlichen Nutz-Kilometer der einzelnen Komponente ändert. Diese spezifischen Zähler werden erst durch digitale Lösungen sinnvoll erfassbar.

Helmut Hohenbichler: Wir würden mit Ihnen gerne noch auf die Kommunikation zwischen der einzelnen Ebene eingehen. Der Fokus bei der ECM liegt in klaren Abgrenzungen der Verantwortungen zwischen ECM2, ECM3 und ECM4. Was ist eigentlich mit der ECM1 Rolle? Wie kann diese auch integrativ mit Digitalisierungsmaßnahmen unterstützt werden? Wie arbeiten ECM1 Rollen mit 2,3 und 4 praktisch zusammen?

Ja, in der Tat wird die ECM 1 Rolle in der praktischen Anwendung der ECM etwas hintenangestellt. Dies ist allerdings nicht damit bedingt, dass sie eine „administrative“ Domäne ist, mehr, da sie die fundamentalen Basisprozesse schafft und bereitstellt, um die operativen ECM Prozesse strukturiert und messbar zu machen.

Im Wesentlichen sind diese ECM 1 Prozesse an etablierten Normen wie der ISO 9001:2015 angelehnt und werden auch in diesem Sinne auditiert.

Als spezielle „Bahn-Norm“ möchte ich auch gerne auf die ISO:TS 22163 verweisen, welche sich vor allem im internationalen normativen Bereich als IRIS-Zertifizierung durchgesetzt hat.

Diese IRIS Zertifizierung wird auch aktuell mit der ERA im Zusammenhang mit der ECM-Verordnung weiter harmonisiert, so dass eine integrative Zusammenführung der Regelwerke sichergestellt werden kann.

Dies soll im Weiteren auch ermöglichen, dass entsprechende Kennzahlen automatisch aus den operativen ECM Prozessen in das Management System übertragen werden um unmittelbar evidenzbasierte Kennzahlen, z. B. im Sicherheitsmanagement oder in der Management Review etablieren zu können.

Helmut Hohenbichler: Ein Thema das im Webinar diskutiert wurde: ÖPNV Bertreiber (Straßenbahnen, Untergrundbahnen oder ähnliche) unterliegen nicht der ECM Verordnung. Was ist der Grund hierfür, bzw. wie sieht hier die Praxis aus? Muss ich mich in dem öffentlichen Verkehrsmittel jetzt weniger sicher fühlen? 

Weniger sicher fühlen? Definitiv nicht, zumindest nicht hier in Europa… Der Grund, dass die ECM-Verordnung aktuell noch nicht für ÖPNV Betreiber verbindlich anzuwenden ist, liegt daran, dass sie Ihre Verkehre zum einen ausschließlich auf eigener Infrastruktur, nur als eigenes Verkehrsunternehmen betreiben und daher für das Gesamtsystem verantwortlich sind. Ebenso teilen sich die ÖPNVs in der Regel die Infrastrukturen mit dem öffentlichen Straßenverkehrsnetz, wo andere Gesetze ergänzend, oder führend anzuwenden sind, z.B. Straßenverkehrsordnung.

Es ist allerdings anzunehmen, dass in absehbarer Zukunft die ECM auch für die ÖPNVs anzuwenden ist. Die ERA empfiehlt bereits in der RIL-797 die ECM für ÖPNVs in nationale Gesetze aufzunehmen.

Ich verfolge am Markt bereits umfangreiche Aktivitäten seitens der ÖPNVs, sich bereits jetzt mit der ECM Verordnung auseinanderzusetzen und ihre Prozesse an der ECM zu orientieren um eine kommende Zertifizierung zu erleichtern, oder auch, wie wir es ebenfalls bereits am Markt antreffen, sich bereits jetzt nach der ECM zertifizieren zu lassen.

Letzteres bedeutet für die ÖPNVs oftmals ein signifikantes umdenken in den Prozessen, was wohl ein eigenes Webinar füllen würde.

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